Ziele setzen? Eine Frage der Ressourcen
Wer ist eigentlich so verrückt, sich in einer Pandemie überhaupt Ziele setzen zu wollen? Eltern brauchten aktuell nicht auf den Blue Monday warten, um herauszufinden, dass ihre Pläne für 2022 nicht aufgehen werden. Es reichte schon völlig, Kinder in Betreuungseinrichtungen oder Schulen zu haben – Pandemie sei Dank. Wintermonate mit Kindern sind eh immer ein bisschen wie Russisch Roulette, nur mit mehr Patronen. Irgendwer ist eigentlich immer krank und wenn man ausnahmsweise eine leere Kammer erwischt hat, wird man selbst krank.
Die Pandemie sorgt nun dafür, dass der Revolver quasi komplett bestückt ist. Selbst wenn gerade niemand krank wird, können wir drauf wetten, dass mindestens eine Gruppe der eigenen Kinder in von Corona betroffen ist. Kinder haben und arbeiten, ein Ehrenamt ausfüllen oder sich selbst gerecht werden? Eh schon immer die Quadratur des Kreises. Als Eltern irgendwelche Ziele setzen oder Pläne machen? Derzeit unmöglich.
Das ist mittlerweile auch der Politik aufgefallen. Leider verhalten sich die Menschen in den Parlamenten und Verwaltungen aktuell aber eher wie Spieleentwickler, die aufs schnelle Geld aus sind: Jedes neue Update patched das Spiel erst einmal kaputt. Statt Familien, Einrichtungen und Schulen zu entlasten, wird verschlimmbessert. Omikron brettert durch die Einrichtungen? Lasst uns erstmal die Gruppenquarantäne abschaffen! Wird schon schiefgehen, wenn lauter Kinder mit unzuverlässigen Schnelltest-Tests weiterhin in die Einrichtung kommen. Hauptsache, die Eltern können arbeiten gehen.
Können wir halt (leider) trotzdem nicht. Denn nun bekommen unsere Kinder nicht nur die Grippe, Erkältungen, Hand-Mund-Fuß oder Magen-Darm, sondern auch noch Corona. Sind es nicht unsere Kinder, erkranken die Erzieher*innen. Das Outcome ist immer dasselbe: Irgendwer ist krank, irgendwer muss betreut werden und wir #Coronaeltern kriechen auf dem Zahnfleisch. Wer sein Kind schützen will, rennt tagelang irgendwelchen Bescheinigungen hinterher, die in Niedersachsen nicht mehr vom Gesundheitsamt kommen, sondern den Kitas auch noch aufs Auge gedrückt werden. Oder man behält das Kind direkt zuhause, aber dann kommt von irgendwo eine Studie her, die zu lange Medienzeiten bei Kindern anmahnt.
Wie soll man sich da noch Ziele setzen?
Ich lebe also gerade in einem riesigen Strudel aus Unwägbarkeiten, Stress und Überforderung. Gefühlt schaffe ich nichts, dabei mache ich gerade alles gleichzeitig: Lohnarbeiten, carearbeiten, selbst mal wieder krank sein, ehrenamtliche Vorsitzende sein, mich antifaschistisch organisieren. Dabei fange ich die Bälle auf, die man mir so zuwirft und arbeite ab. Für jeden Ball, den ich wegwerfen kann, kommen zwei neue dazu. Ich jongliere in einer Tour und stehe dabei sogar nur auf einem Bein, weil meine Kapazitäten geringer sind als die anderer Leute. Eine Strategie oder einen Plan machen, geschweige denn mir Ziele setzen? Ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann.
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Das bringt mich zu den beiden essentiellen Elementen, die es braucht, um Ziele zu setzen und einen Plan zu fassen: Zeit und Ruhe. Ich bin schon ziemlich gut im Improvisieren. Gleichzeitig ist mein Gehirn aber sehr reizoffen. Das bedeutet, ich erfasse alle auf mich einströmenden Eindrücke in einer Intensität, die ich nicht filtern kann. Ich kann also nicht schon im gleichen Moment entscheiden, was jetzt wichtig und was eher unwichtig ist. Ich brauche ein gewisses Maß an Rückzug, also Zeit und Raum für mich selbst, um die Flut an To-Do`s und Informationen zu sichten und zu sortieren.
Wer jeden Tag nur versucht, zu überleben, setzt keine Ziele oder macht Pläne. Man ist einfach froh, wenn man es ohne größere Katastrophen bis ins Bett geschafft hat. Ohne den Luxus von größeren Zeiträumen für sich selbst, Ruhe und gegebenenfalls Unterstützung von außen, haben Grundbedürfnisse Priorität. Die Kinder versorgen, essen, Geld verdienen, damit alle essen können, Ordnung halten und eventuell sogar schlafen – das muss reichen.
Pläne machen ist auch Mental Load
Dabei geht es ja nicht nur um Zeit im Sinne von abgegrenzten Intervallen, die man auf der Uhr messen kann. Sondern auch um mentale Kapazitäten oder Headspace, wie es auf Social Media gerade so nett genannt wird. Wir kommen hier auf eins der Kernkonzepte feministischer Debatten zurück: Mental Load.
Es geht nicht nur um die reinen Tätigkeiten: Putzen, Essen machen, Lohnarbeiten, Kinder versorgen, evtl. politisches Engagement. Sondern auch um all die Überlegungen, Gedanken und Merkleistungen, die da dran hängen. Deadlines, Arzttermine, Sitzungen, das kann ich alles in den Kalender schreiben. Aber wer braucht wofür welche Überweisung? Wie kann ich das Thema für den Kunden so aufbereiten, dass es sich nicht allzu sehr zum letzten Text doppelt? Habe ich die Email wegen des Banners und verschickt? Was ist eigentlich mit den Angeboten für die neue Mitgliederzeitung? Und was zur Hölle gibt es heute eigentlich zu essen?
Den Luxus des Ehrenamtes kann ich mir schon nur deshalb leisten, weil ich in einer Beziehung mit einem sehr großartigen Mann bin, der einen großen Teil der Carearbeit übernimmt. Doch ursprünglich war unser System auf ein Netzwerk gebaut: die Kita, die nun ständig ausfällt oder für uns tabu ist, weil Kinder krank. Spielfreund*innen der Kinder, die man nun kaum sieht oder hat, weil man die Kontakte beschränkt. Die Großmutter, die nun selbst erkrankt und plötzlich Hochrisikopatientin ist.
Das Schlimmste ist das Gefühl der Ohnmacht, das sich einstellt. Wenn das gesamte Konstrukt wieder in sich zusammenfällt, weil wieder ein Kind krank ist oder man selbst oder der Partner. Wenn man wieder feststellt, dass jeder Plan noch so gut sein kann: Als Mutter in der Pandemie lebt man in einem Kartenhaus.
Nach der Ohnmacht kommt die Wut. Auf mich selbst, weil alle anderen schaffen es doch auch. Und wie soll denn überhaupt mal irgendwas besser werden, wenn ich meine Sachen nicht auf die Reihe kriege? Dann werde ich wütend auf das System. Auf den Individualismus, der tragende, soziale Netzwerke so zerstört hat. Auf Politiker*innen, weil es immer so viel mehr um Lobbyinteressen und Egos geht als um die Menschen.
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Ziele setzen braucht Ressourcen – oder Privilegien
War ich vor vier Wochen noch so motiviert, dass ich sogar einen Jahresplan gemacht habe, merke ich nun, woher meine eigentliche Aversion gegen Ziele setzen und Pläne machen kommt. Denn tatsächlich fallen mit Planungen und das Stecken von Zielen schon immer schwer. Schlicht, weil ich es nicht anders kenne als immer von Tag zu Tag zu schauen, wie ich über die Runden komme.
Wer immer nur knapp über die Runden kommt, wagt nicht zu träumen. Viel zu bitter und prägend ist die Erfahrung, dass man die eigenen Wünsche und Ziele irgendwann beiseite schieben muss, weil das Überleben im Alltag Priorität hat. Wenn der Alltag schon so viel Kraft kostet, dass man abends kaum noch in der Lage ist, den Haushalt zu erledigen, dann können Coaches noch so viel predigen, man müsse nur die richtigen Prioritäten setzen. Dann liegt die Priorität auf Überleben, nicht auf zusätzlicher Arbeit. Und egal wie sehr die Leute dann abwehrend sagen, das wäre doch auch ok: Nein, es ist gar nicht ok. Denn Menschen, die so allein gelassen werden, sind in der Regel auch ziemlich unglücklich.
Sich Ziele zu setzen geht nämlich auch mit Ressourcen einher: nicht nur Zeit und Stabilität, sondern auch Geld und Unterstützung. Um langfristig auf ein Ziel hinzuarbeiten, in das ich Geld investieren möchte, muss ich erst einmal im Alltag genug Geld haben, um klar zu kommen. In meinem Beispiel wäre das eine Ausbildung, um mich neu zu orientieren. Damit ich mir die leisten kann, muss ich im Alltag erstmal finanziell stabil stehen.
Hier merkt man dann, wie die Katze sich in den Schwanz beißt. Mein Alltag gibt aktuell nämlich überhaupt nicht genug Stabilität her, um finanziell sicher zu stehen. Wenn ständig ein Kind krank oder ein Kind zuhause ist, wenn ich ständig selbst krank werde, wenn immer alle Alltagsstrukturen scheitern, ich nicht arbeiten kann, dann bleiben Umsätze aus. Ich muss Zeit und Headspace haben, um Texte für Kund*innen zu verfassen. Es braucht planbare Strukturen, um Deadlines halten zu können. Nicht zuletzt braucht es kontinuierliche Abgaben und zuverlässige Arbeit, um mehr Arbeit für mehr Umsätze zu generieren. Für Planbarkeit braucht es Unterstützung durch ein Netzwerk. All das sind Dinge, auf die ich mich gerade nicht verlassen kann.
Ziel verfehlt
Eigentlich wollte ich diese Kolumne gerne mit einem positiven Twist beenden. Irgendwelche Hacks oder Learnings, die euch konstruktiv etwas an die Hand geben, sodass dieser Text keine Schimpftirade bleibt. Ich habe jetzt allerdings 12 Stunden lang darauf herumgedacht und alles, was ich hier jetzt hinschreiben könnte, bleibt hohl. Ziel verfehlt.
Wobei das manchmal ja auch eine ganz heilsame Erkenntnis ist. Man muss nicht an allem gleich das Positive sehen. Manchmal ist eine Bestandsaufnahme darüber, wie schief gerade alles läuft, schon alles, was man braucht. Lösungen gibts dann später. Vielleicht im nächsten Beitrag.
Wie gut könnt ihr euch Ziele setzen?
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Celsy ist Autorin, Möglichmacherin und Gründerin von Eine fixe Idee. In Büchern, Texten, Podcasts, Mentorings und Workshops hilft sie Menschen dabei, selbstwirksam in eine sozialpolitisch gerechte Zukunft zu schauen. Immer dabei: Ein Kaffee mit ganz viel Milchschaum.
Ziele setzen kann ich gut – sie „verfehlen“ auch. Ich bin inzwischen ein großer Fan davon Ziele als Momentaufnahme zu sehen und sie immer wieder zu reflektieren und anzupassen.
Ein total guter Ansatz! Das mach ich mittlerweile genauso, weil ich auch oft feststelle, dass manche Ziele gar nicht lange gut zu mir passen.