Eltern am Limit: Nicht systemrelevant
Der verschärfte Lockdown war noch nicht einmal verkündet, da entbrannten die Diskussionen darum, welche Eltern nun als systemrelevant gelten und welche nicht. Auch Gastautorin Jessika Fichtel ist Mutter eines eineinhalb-jährigen Kindes und ist die Diskussionen leid. Denn Systemrelevanz hin oder her – sind nicht alle Eltern mit Homeoffice, Care-Arbeit (und Homeschooling) längst am Limit? Ein Appell für mehr Weitsicht und Miteinander.
Frühjahr 2020: Deutschland geht in den ersten Corona-Lockdown. Kaum wissend, was das wirklich für uns alle bedeutet, verfolge ich die Nachrichten. Lese von Schul- und Kita-Schließungen, der Aufforderung, (wenn möglich) von zuhause aus zu arbeiten, von #CoronaEltern. Die Meldungen beunruhigen mich, doch gleichzeitig atme ich tief durch. Denn – so absurd es aus der heutigen Sicht auf mich wirkt – der erste Lockdown hat mich in meiner Lebensrealität nur wenig tangiert. Das Kleinkind war zu jener Zeit acht, neun Monate alt, die Krippenbetreuung in scheinbar weiter Ferne – genauso wie die Aussichten darauf, wieder „voll“ arbeiten zu können. Das einzige, was uns plötzlich fehlte, waren die Besuche bei Oma und Opa auf dem Dorf, doch irgendwie schafften wir es, auch das zu kompensieren. Es dient ja dem Allgemeinwohl.
Dezember 2020: Ich blättere nervös durch meinen Filofax und zähle die Tage bis zum 10. Januar. Dreieinhalb Wochen – puh. Doch immerhin mit reichlich Feier- und Brückentagen, wir werden das also schon irgendwie schaffen. Es dient ja dem Allgemeinwohl.
Januar 2021: Wieder hole ich meinen Kalender raus und beginne, zu rechnen. Nochmal dreieinhalb Wochen, bis die Krippe hoffentlich wieder öffnet. On top zu denen, die wir nun beinahe geschafft haben. Der Anflug einer kleinen Panik macht sich in mir breit, doch ich schaffe es, sie beiseite zu schieben. Würde nichts bringen, jetzt den Kopf zu verlieren. Cool bleiben, einen Plan schmieden, weitermachen, nach vorn blicken. Es dient ja dem Allgemeinwohl.
Ein logisches System, das trotzdem hinkt
Meine Arbeit ist nicht systemrelevant und ich bin es damit auch nicht. Obwohl ich schon immer wusste, dass ich mit meiner Tätigkeit als Texterin die Welt wohl kaum zu einem besseren Ort mache und erst recht keine Menschenleben retten kann, war mir dieser Umstand nie so bewusst wie im Moment.
Dass Berufe derzeit mit Blick auf eine Notbetreuung von Kindern in systemrelevant und nicht systemrelevant aufgeteilt werden, erscheint mir durchaus sinnvoll. Ich verstehe die Idee dahinter, dass die Leute, die in ihrem Präsenzjob unverzichtbar sind, ihre Kinder trotzdem in Krippe, Kita oder Hort abgeben können.
Doch immer öfter frage ich mich in den letzten Tagen auch: Und was ist mit dem Rest? Was ist mit uns, die wir nicht relevant für das System sind, aber trotzdem schauen müssen, wie am Ende des Monats das Geld auf unserem Konto landet beziehungsweise der:die Arbeitgeber:in zufrieden mit unserer Leistung ist?
Dazu ein kleiner Einschub: Ich schreibe diesen Artikel aus der Perspektive einer Selbstständigen. Zwar muss ich mir als Freelance-Texterin keine Gedanken über Urlaubs- und Krankheitstage machen. Dafür hängt mir aber der Druck im Nacken, dass ich kein Geld verdiene, wenn ich nicht arbeite(n kann). Ein Sicherheitsnetz aus Lohnfortzahlung, Kurzarbeitergeld und Sozialleistungen gibt es für mich nicht. Auch staatliche Maßnahmen wie (eventuell angedachte) zusätzliche Kindkrank-Tage oder Sonderurlaub kämen für mich nicht in Frage.
Politische Bildung und feministische Arbeit kostet Zeit und Geld. Als Selbstständige habe ich keinen Arbeitgeber, der die kostenlose Arbeit im Netz auffängt. Bitte unterstütze meine Arbeit für nur 3 Euro entweder mit einem Kaffee über PayPal oder supporte mich auf Steady Für nur 3, 6 oder 10 Euro kannst du monatlich dazu beitragen, dass meine Beiträge für alle kostenlos zugänglich sind. Meine ewige Dankbarkeit sicherst du dir auch! <3 Hilf mir, die Welt zu verändern!
Homeoffice mit (Klein-)Kind ist ein Mythos
Ich arbeite im Homeoffice. Schon immer. Für mich ist das kein Segen (oder Fluch) bedingt durch Corona, sondern der Normalzustand. Ich habe meine Arbeitsweise in den letzten fünfeinhalb Jahren perfektioniert und schaffe es gut, in den eigenen vier Wänden fokussiert und produktiv zu sein.
Wäre da nicht aktuell diese eine „Kleinigkeit“ – nämlich ein anderthalb Jahre altes Kind, das gerade (gefühlt) 24/7 meine Aufmerksamkeit verlangt und diese natürlich auch die meiste Zeit bekommt.
An dieser Stelle eine Information, die sicherlich schnell zwischen all den großen Learnings einer weltweiten Pandemie untergeht, aber trotzdem nicht ganz unwesentlich ist: Homeoffice mit (Klein-) Kind ist ein Mythos. Es ist ein Märchen, das sich irgendjemand ausgedacht hat, um den Laden a.k.a. die Wirtschaft (verständlicherweise) irgendwie am Laufen zu halten. Oder ganz einfach formuliert: Homeoffice mit (Klein-) Kind ist faktisch nicht möglich.
Das Verrückte oder fast schon Perfide daran? Obwohl immer mehr Eltern dämmert, was ihnen da im vergangenen Frühjahr für eine Lüge aufgetischt wurde („Arbeitet von zuhause, dann könnt ihr euren Job und die Kinderbetreuung ganz prima vereinbaren!“), gibt es nach wie vor mindestens genauso viele, die das Homeoffice für eine Art heiligen Gral halten – und im gleichen Atemzug fast schon neidisch auf die Mütter und Väter blicken, die ja das große „Glück“ haben, von zuhause aus arbeiten zu können und deshalb auf keinen Fall die Notbetreuung in Anspruch nehmen dürfen müssen.
Soll ich dir etwas sagen? Wenn ich so etwas noch einmal höre oder lese, dann fange ich an zu schreien und höre erst wieder auf, wenn die Krise offiziell vorbei ist. Denn was aus der Sicht mancher scheinbar das ganz große Los ist, ist streng genommen eine riesengroße Arschkarte.
Viel (Interpretations-)Spielraum
Lese ich die Voraussetzungen für eine Notbetreuung vom Thüringer Bildungsministerium, erfahre ich: Jede:r, der:die im Home Office arbeiten kann, darf oder (wie ich) schlichtweg muss (weil es keine Alternative gibt), hat erst einmal keinen Anspruch darauf, sein Kind in die Betreuung zu geben. Düdümm.
Damit sendet die Politik nicht nur das fatale Signal, dass produktives Arbeiten und Homeoffice und Kinderbetreuung (+ ggf. auch noch Home Schooling!) möglich sind (haha), sie grenzt auch noch kategorisch Freelancer:innen und andere Selbstständige aus, die „von Haus aus“ von zuhause aus arbeiten (müssen).
Der letzte Punkt des Thüringer Bildungsministeriums, der besagt, Notbetreuung käme auch dann in Frage, wenn „ein unzumutbarer Verdienstausfall“ drohe, lässt mich müde lächeln. Was genau das ist und wie ich ihn nachweisen soll, bleibt mir nämlich ein Rätsel. Oben drauf ist die Formulierung ein schwammiges Schlupfloch, das es letztlich nahezu allen Eltern ermöglichen könnte, einen Notbetreuungsplatz für den Nachwuchs zu bekommen. Gleiches gilt aus meiner Sicht by the way für die Bescheinigung vom Chef oder der Chefin, dass das Arbeiten im Heimbüro auf gar keinen Fall möglich ist.
Soll das wirklich der Sinn der ganzen Sache sein?
Die Wahl zwischen Pest und Cholera
Und noch wichtiger: Ist es gut, durch derart schwammige Rahmenbedingungen (diese variieren übrigens von Bundesland zu Bundesland) die Entscheidung für oder gegen die Notbetreuung nahezu vollständig auf die Eltern abzuwälzen? Denn sind wir mal ehrlich: Hierbei handelt es sich doch um die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entscheide ich mich gegen die Notbetreuung, riskiere ich neben Verdienstausfällen und mental breakdown auch die komplette soziale Isolation meines Kindes. Blöd.
Nehme ich die Notbetreuung in Anspruch, geht das nicht nur mit jeder Menge Rechtfertigungen (gegenüber anderen Eltern und dem Betreuungspersonal) und einem schlechten Gewissen einher, sondern schadet im schlimmsten Fall tatsächlich Menschen. Auch blöd.
Das Fatale daran? Wie es Alexandra Zykunov vor wenigen Tagen ganz klar auf Instagram formulierte: Die Verantwortung, die eigentlich bei der Politik und konkret bei den Bildungsministerien liegen SOLLTE, wird in diesem Fall eiskalt an die Eltern und damit ins Private abgegeben.
Das Resultat: Verunsicherte Eltern, die nicht mehr wissen, was richtig oder falsch ist, offen ausgetragene (Interessen-) Konflikte zwischen Eltern und Pädagog:innen und ein zunehmend scharfer Umgangston in Debatten aller Art – sowohl online als auch offline.
Lese-Empfehlung: Wenn du dich für mehr politische Impulse zur Thematik #CoronaEltern interessierst, dann lege ich dir diesen Artikel von meiner Freundin und Kollegin Celsy Dehnert ans Herz, der auch bei Edition F erschienen ist.
Notbetreuung ad absurdum
Um es nochmal zusammenzufassen:
1. Eltern, die ins Home Office gehen, bringen nicht nur ein großes Opfer, sie betrafen sich am Ende selbst gleich doppelt und dreifach.
2. Letztlich kann fast jede:r Anspruch auf Notbetreuung erheben. (Erst recht durch den letzten Punkt der Thüringer Regelung und Unternehmen, die daran interessiert sind, ihre Mitarbeiter:innen vor Ort zu haben).
3. Aus 2. resultiert wiederum, dass (aus meiner Sicht) viel zu viele Eltern ihre Kinder in die Notbetreuung geben und das Konzept dadurch ad absurdum geführt wird.
4. Weiterhin sorgt der große Spielraum dafür, dass die Verantwortung, die eigentlich Politiker:innen tragen müssen, auf Eltern abgewälzt wird. Die einen nennen es Selbstbestimmung, für mich persönlich ist es ein unzumutbarer Belastungsdruck.
Ich fühle mich ungesehen
Ja, ich bin nicht systemrelevant. Die Welt dreht sich auch dann weiter, wenn ich nicht arbeite. Ich hab‘s verstanden, Tanja!
Trotzdem muss auch ich irgendwie zusehen, wie ich mein Business am Laufen halte und somit meine berufliche Existenz sichere. Über Wochen oder gar Monate nicht zu arbeiten, ist schlichtweg keine Option. Es würde nicht nur meinem Kontostand schaden, sondern auch meiner beruflichen Reputation und somit vieles zerstören, was ich mir in den letzten Jahren aufgebaut habe.
Doch weil ich eben nicht relevant fürs System bin und obendrauf auch noch das „Glück“ habe, im Homeoffice arbeiten zu können (also… zumindest in der Theorie…), wird genau das gerade in vielen Gesprächen gepflegt ignoriert – ein Umstand, der mich erst traurig gemacht hat und mittlerweile zusehends wütend zurück lässt. Ich freue mich schon auf die Phase der Resignation, die hoffentlich bald eintritt.
Was mich an dem Diskurs so stört? Ich fühle mich unsichtbar und so, als hätte ich kein Recht, mich über meine aktuelle Situation zu beschweren.
Mehr Empathie und Verständnis, bitte!
Zum Abschluss noch eine Klarstellung, die mir am Herzen liegt:
Ich möchte in diesem Artikel keinesfalls die Sorgen, Nöte und ganz realen Probleme anderer Eltern relativieren oder in Frage stellen. Dann wäre ich ja kein Stück besser als die, die mich gerade regelmäßig an den Rand der Verzweiflung treiben. Ich denke, jede:r von uns sollte im Moment gehört und gesehen werden. Jede:r von uns hat ein Recht darauf, sich Luft zu machen, seine Ängste zu äußern, Kritik zu üben, sich am Diskurs zu beteiligen.
Wir sind alle #CoronaEltern und haben unsere persönlichen Geschichten, deren Happy End gerade nicht wirklich erkennbar ist.
Was ich mir für uns in den kommenden Wochen wünsche, ist mehr Empathie und mehr Verständnis füreinander. An Letzterem muss auch ich noch mehr und noch bewusster arbeiten.
Bis wir die Krise überwunden haben, versuche ich, in all dem täglichen Wahnsinn nicht völlig durchzudrehen. Denn – sofern es nicht WIRKLICH nötig ist – werden wir keine Notbetreuung in Anspruch nehmen. Stattdessen werden wir die „Kinderbespaßung“ als Eltern untereinander aufteilen. Ich hoffe, dass sich dieses Opfer lohnt und die Krippe hier in Thüringen ab 1. Februar wieder öffnet. #fingerscrossed
Politische Bildung und feministische Arbeit kostet Zeit und Geld. Als Selbstständige habe ich keinen Arbeitgeber, der die kostenlose Arbeit im Netz auffängt. Bitte unterstütze meine Arbeit für nur 3 Euro entweder mit einem Kaffee über PayPal oder supporte mich auf Steady Für nur 3, 6 oder 10 Euro kannst du monatlich dazu beitragen, dass meine Beiträge für alle kostenlos zugänglich sind. Meine ewige Dankbarkeit sicherst du dir auch! <3 Hilf mir, die Welt zu verändern!
Jessika Fichtel
Jessika Fichtel arbeitet seit 2015 als freiberufliche Texterin mit dem Schwerpunkt Corporate Blogging. Sie ist Buchautorin, Co-Gründerin des Netzwerks "Thüringen bloggt" und Mutter eines Kleinkindes. In ihrer Freizeit überlegt sie gern, wie sie ihr Leben nachhaltiger gestalten kann und wohin die nächste Wanderung mit Freund und Kind führen soll.