Mit Überforderung (über)leben

Ich reagiere mit Überforderung meist auf Dinge, die außerhalb meines Machtbereiches liegen: Die Launen meiner Kinder oder wie viel Aufmerksamkeit sie benötigen. Die Erwartungen anderer an mich, meine Arbeit oder mein Verhalten. Ob die Kita gerade geschlossen ist. Wie viele Aufträge mich im kommenden Monat erwarten. Der strukturelle Sexismus, der von Frauen mehr Care-Arbeit erwartet als von Männern. Oder eine globale Pandemie.

Jede*r von uns kennt diese Dinge, die uns dermaßen überfordern, dass uns die Luft wegbleibt. Wir wissen weder ein noch aus und erkennen nicht so richtig, wo wir anfangen sollen, das Wollknäuel zu entwirren. Über die Jahre hinweg habe ich aber auch gelernt: Durch meine Hochsensibilität und meine Gefühlsstärke potenzieren sich die Dinge bei mir. Wo der eine bloße Verwirrung empfindet, entwickelt sich bei mir blankes Entsetzen. Der einen Müdigkeit ist meine gnadenlose Erschöpfung. Berechtigten Unmut empfinde ich als handfeste Wut und aus normaler Traurigkeit entspinnt sich tiefe Verzweiflung.

Man könnte sagen: Ich lebe die Überforderung.

Was ich aber auch lebe, ist das stete Wiederaufstehen. Krönchen richten, weitergehen. Ist meine persönliche Talsohle durchschritten, entwickle ich Kraft und Tatendrang, um zu tun, was ich kann, damit es irgendwie besser wird. In der Fachsprache würde man mich auch als resilient bezeichnen. Eine Zuschreibung, über die ich mir bislang nicht einig bin. Ich sehe mich auch nicht in der Position, irgendwelche Tipps zu verteilen, wie man mit Ausnahmesituationen des Lebens umgehen sollte. Allerdings kann ich euch erzählen, was für mich in Momenten der Überforderung funktioniert.

Die Überforderung annehmen

Die wichtigste Erkenntnis im Umgang mit meinen persönlichen Tiefen ist: Jedes Gefühl hat seine Berechtigung. Es ist okay, was du fühlst. Du stellst dich nicht besonders an, du bist weder zimperlich noch überempfindlich, sondern du darfst fühlen, was du fühlst. Selbst wenn für dich gerade alles ein einziges Jammertal ist – das ist in Ordnung. Niemand auf dieser Welt kann von dir erwarten, dich zusammenzureißen.

Erst als ich angenommen habe, was ich fühle, habe ich gelernt, mit diesen Gefühlen konstruktiv umzugehen. Wir müssen uns nicht von unserer neoliberalen Gesellschaft diktieren lassen, immer happy und unkompliziert sein zu müssen. Ganz im Gegenteil: Es sind die unschönen, hässlichen, gesellschaftlich abgewerteten Gefühle wie Wut, Entsetzen und Trauer, die unsere Welt bewegen. Selten kommt Veränderung zustande, weil wir alle ja ach so glücklich sind. Erst, wenn der Schuh so richtig drückt, wächst die Notwendigkeit, mal ein anderes Paar anzuprobieren.

Ich gestehe mir also endlich zu, verzweifelt, erschöpft und wutentbrannt zu sein. Natürlich gelte ich damit als anstrengend und unbequem. Ich bin die, die nie mal etwas einfach “gut sein lassen” kann. Aber das ist ok. Manchmal mag ich diese Art von Dramatik sogar. Wie der Phönix aus der Asche – wenn ich mein persönliches Jammertal durchschritten habe, kommt meist eine gute Idee irgendwo her. Selbst wenn nicht: Ich habe dann immerhin die Geduld, den Zustand gerade einfach auszuhalten.

Aus Überforderung laut werden

Wird mir alles zu viel und kann ich die Reize nicht mehr filtern, werde ich tatsächlich auch mal wirklich laut. Ich fange dann an, herum zu brüllen – nicht häufig, aber durchaus ab und an. Für mich ist das meine ultimative rote Ampel; wenn es soweit ist, weiß ich, andere Strategien müssen her.

Viel eher meine ich aber mit “laut werden” die Option, auf die Überforderung hinzuweisen. Ob ich nun meinen Mann anspreche und ihm sage, wie ich mich fühle, einer Freundin schreibe oder in meine Stories hinein rante: All das sind meine Möglichkeiten, darauf hinzuweisen, dass es gerade so nicht weitergeht. Ich kann konkret um Hilfe bitten und da, wo Hilfe gerade nicht möglich ist, mir immerhin meinen Ballast von der Seele reden. Es ist, wie der Volksmund sagt: Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Deshalb: Sprich. Selbst wenn du nur wütend zehn Minuten lang vor dich hin schimpfst, machst du damit der Überforderung Luft. Es sind meist die Dinge, die sich nach innen hin anstauen, die uns die meiste Luft nehmen.

Nicht zuletzt ist Aktivismus immer schon aus Wut, Überforderung und Ohnmacht erwachsen. Aus dem unbändigen Drang, den eigenen Machtbereich zu erweitern, weil die Missstände so unaushaltbar waren. Wenn du also die Kraft hast, laut zu werden, dann sprich an, was dich überfordert. Überforderung ist nichts, wofür wir uns schämen müssten. Stattdessen zeigt unsere eigene Verletzlichkeit anderen, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein sein. Aus einer werden zwei, daraus werden drei und ab vier ist es bekanntlich eine Party – also eine Gruppe, mit der sich Erfolge auf dem Weg zur Besserung feiern lassen.

Überfordert auch das Gute sehen

Was unglaublich wichtig für mich ist, wenn mich die Überforderung so zu verschlucken droht, ist es, mir ganz bewusst Zeit für das Gute in meinem Leben zu nehmen. Ich halte nichts davon, alles Trübe und Dunkle in Achtsamkeit zu ertränken, aber: Ab und an mal auszusteigen, durchzuatmen und den Blick aufs Schöne zu lenken, das hilft tatsächlich. Dabei müssen es keine großen Dinge sein: die Seifenblasen, die im Sonnenlicht funkeln, während die Kinder hinter ihnen hinterherrennen; der blaue Himmel über mir, während ich meinen Kaffee trinke; ein hübsches Blümchen am Wegesrand; die liebe Nachricht einer Freundin – nimm dir einen Moment Zeit für das, was dich zum Lächeln bringt. Genieße dieses Lächeln. Du hast es verdient, dich für einen kleinen Moment zu freuen.

Ansonsten bin ich ein großer Fan von selbstgestrickten Belohnungssystemen. Mein liebstes Tool dafür: To-Do-Listen. Nichts zeigt mir deutlicher, was ich im Laufe des Tages geschafft habe. Das Credo hierbei ist, jedes noch so kleine To-Do aufzuschreiben, um es am Ende des Tages durchstreichen zu können. Extra-Tipp für Mütter: Auch so “Kleinigkeiten” des Familienalltages, wie die Wäsche aufzuhängen, gehören dazu.

Sicherlich wird die To-Do-Liste dadurch länger. Aber sie lässt sich eben auch viel schneller abarbeiten. 

Gerade in der akuten Überforderung ist es die Vielzahl an Dingen, von denen ich glaube, sie machen zu müssen, die mich lähmt. All das einmal aufzuschreiben und anschließend durchstreichen zu können, hat eine nicht zu unterschätzende, psychologische Wirkung. Denn: Nicht nur die Vielzahl an Dingen lähmt mich, sondern auch das Gefühl, am Ende des Tages nichts geschafft zu haben. Die To-Do-Liste ist der unerschütterliche Beweis für all das, was du täglich leistest.

Es nicht aussitzen, sondern handeln

Für mich persönlich der schwierigste Weg ist der, aus meiner gefühlten Ohnmacht herauszukommen. Gerade dann, wenn die Überforderung mich hart trifft, neige ich dazu, mich den ganzen Tag hinter meinem Handy auf dem Sofa oder im Bett zu verstecken, wenn die Kinder mich gerade nicht brauchen. In all meinem Leid, meiner Verzweiflung und der Ohnmacht fühle ich mich dann so haltlos, dass ich gar nichts mehr tu. Ich ziehe mich zurück, in der Hoffnung, dass der Sturm einfach an mir vorbeizieht.

Das ist auch okay, solange die Schildkröten-Taktik auch wirklich aufgeht. Ist die Überforderung auf akute Überlastung zurückzuführen, die vor allem mehr Ruhe bedarf, kann das hervorragend funktionieren. Bin ich allerdings mit einer potentiell beängstigenden Situation konfrontiert, wird die Vogel-Strauß-Taktik nicht lange gut gehen. Ich merke dann selbst sehr, wie unruhig, unzufrieden und launisch ich bin, weil ich weder ein noch aus weiß.

In solchen Momenten hilft es mir, ins Handeln zu kommen. Ich muss mich gar nicht unbedingt dem Problem selbst widmen, sondern es geht erstmal darum, IRGENDETWAS zu tun. Du kannst einen Spaziergang unternehmen, eine Maschine Wäsche anstellen, duschen gehen oder eine Freundin anrufen. Es ist völlig egal, solange es aus der Lethargie herausführt. Ich habe festgestellt, dass in den Wald zu gehen, bei Bedarf einmal zu schreien und dann einfach die Umgebung ihren Rest tun zu lassen, für mich wahre Wunder bewirken kann. Aus der Panikattacke inklusive Heulkrampf von heute Morgen wurde der Blogartikel für Mittwoch.

Die wichtigsten Frage in der Überforderung

All diese Strategien führen mich schließlich zur Kernfrage, wenn ich völlig überfordert bin: 

Was in dieser Situation kann ich WIRKLICH beeinflussen?

Mir meinen eigenen Machtbereich vor Augen zu führen, kann sehr einschüchternd wirken. Immerhin liegen viele Dinge außerhalb unseres Einflusses. Aber: Die Dinge, die ich klar benennen kann, von denen ich genau weiß, wie und dass ich sie verändern kann, sind meine Leitplanken. Sie sind die Straßenlaternen in finsterer Nacht. Ich kann die Straße nicht vollständig sehen, aber ich sehe die vielen, hellen Lichtkegel auf dem Weg, der vor mir liegt. Wohin ich am Ende der Straße gelange, muss ich gar nicht so genau wissen – wichtig ist jetzt nur, von einer Laterne zur nächsten zu kommen.

Mich dem Gefühl bewusst hinzugeben, es anzuerkennen, es zu benennen, mich aus meiner Lethargie zu befreien und schließlich konkret danach zu fragen, was ich beeinflussen kann: So wird aus dem Sturm der Überforderung zumindest nur noch ein laues Lüftchen, dessen Wellen mein Boot ein wenig schaukeln lassen. Es wird noch lange nicht unbedingt alles wieder gut – aber etwas ein wenig besser. Auch wenn unsere Gesellschaft dir etwas anderes erzählt: Das ist völlig okay so.

Wie gehst du mit Überforderung um? Vielleicht können wir voneinander lernen.

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Celsy ist Autorin, Möglichmacherin und Gründerin von Eine fixe Idee. In Büchern, Texten, Podcasts, Mentorings und Workshops hilft sie Menschen dabei, selbstwirksam in eine sozialpolitisch gerechte Zukunft zu schauen. Immer dabei: Ein Kaffee mit ganz viel Milchschaum.

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