Die Kleinfamilie hat ausgedient

Warum muss ich mich eigentlich völlig allein um meine Kinder kümmern? Oder um mich selbst? Wieso feiern wir die Kleinfamilie immer noch als das Maß aller Dinge? Ich finde, gerade in Zeiten von #SocialDistancing sind das Fragen, die wir dringend stellen sollten. Die sich Frauen dringend stellen sollten. Männer auch. Aber gerade dann, wenn mal wieder alle krank sind, der Job drückt und die nächsten drei Pest-Ankündigungen schon im Kita-Flur hängen, dann stellt sich diese Frage doch vor allem Frauen. Oder dann, wenn eine Pandemie ausbricht und das öffentliche Leben zum Erliegen kommt.

Care-Arbeit ist Privatsache

Also: Warum eigentlich? Kinder sind Privatsache, heißt es. Vor allem in Kommentarspalten unter Medienbeiträgen zur desaströsen Betreuungssituation in Kindertagesstätten argumentieren sie (meint meist alte, weiße Männer, deren Ehefrauen ihnen immer schön „den Rücken frei gehalten“ haben) damit, dass sich Kinder anzuschaffen doch eine private Angelegenheit sei und warum der Steuerzahler nun für die Betreuung derselbigen aufkommen sollte.

Hmm. In Rente gehen ist auch eine private Angelegenheit, kannst doch auch arbeiten, bis du aus den Latschen kippst. Warum entscheidest du dich denn dafür, so alt zu werden und verlangst, dass nun andere Rentenbeitragszahlende dafür aufkommen? Merkste selbst, was!?

Auch Care-Arbeit ist Privatsache, haben wir irgendwann einmal entschieden. Statt jetzt danach zu fragen, wie man Menschen dabei unterstützen kann, sich um sich selbst und andere zu kümmern, entwickeln wir Lösungen und drosseln Streaming-Plattformen, damit Menschen im Homeoffice möglichst effizient arbeiten.

Die Realität ist: Ist das Kind krank, bist du auf dich allein gestellt. Das kranke Kind betreuen, deinem Job – evtl. sogar einer Selbstständigkeit – gerecht zu werden, dabei den Haushalt zu schmeißen und irgendwie die geistige Gesundheit zu erhalten, das kannst du gern in deinen privaten Netzwerken organisieren. Bist du selbst krank, bist du auf dich allein gestellt. Bricht die Infrastruktur aus Netzwerken zusammen, weil eine Pandemie Europa heimsucht, sind wir auf uns allein gestellt. Die Kleinstfamilie sorgt für sich selbst.

Die Kleinfamilie taugt nicht

Tja, was ist denn nun aber, wenn eben diese das nicht kann? Sind die Eltern ein Team, ist man immerhin schon zu zweit allein – hilft aber auch wenig, wenn beide arbeiten oder es mehr als ein Kind zu betreuen gilt. Ständiger Staffelwechsel ist angesagt, Zeiten für sich oder als Paar bleiben auf der Strecke. Schlimmer geht es da noch Alleinerziehenden: Wenn da kein zweiter ist, der die Verantwortung trägt, wird die alltägliche Belastung zum absoluten Endgegner. Ist die Alleinerziehende selbst krank, kommt alles zum Erliegen.

Aber was ist denn mit den Großeltern? Ja, wenn man diese hat und das auch noch in voller Zahl direkt um die Ecke: Entwarnung. Das macht einiges erheblich leichter. Doch auch hier tun sich Lücken und Tücken auf, mit denen mensch erst einmal rechnen muss: etwa eine Berufstätigkeit eben dieser Großeltern oder deren eigene Erkrankung(en). Wohnen Schwieger- und eigene Eltern gar nicht im selben Ort, sondern sogar mehrere hundert Kilometer entfernt, ist all das auch nicht viel mehr als ein warmer Gedanke.

Wer Oma und Opa nicht direkt um die Ecke hat, wer alleinerziehend ist und alles alleine stemmen muss, wer eine:n kranke:n Partner:in pflegen und parallel die Kinderbetreuung wuppen muss, wer sonntagmorgens allein und krank auf dem Sofa sitzt, wer fernab von Familien und Freunden wohnt, weiß schon lange: Die Kleinfamilie taugt nicht.

Vater, Mutter, Kind – so weit, so heteronormativ. Eine Erfindung der Moderne, Ergebnis der Industrialisierung und die Grundbedingung des Kapitalismus. Es ist das Konstrukt, demnach ein Paar nach seinem verbindlichen Bekenntnis zueinander in einen eigenen Hausstand zieht und hier mit der eigenen Brut in den eigenen vier Wänden lebt. Verantwortung für andere existiert in diesem System nur noch dann, wenn sie an eine Paarbeziehung geknüpft ist. Mehrgenerationenhäuser oder Solidargemeinschaften kennen wir nicht mehr. Mein Haus, mein Kind, mein Auto.

Wenn dann aber plötzlich der Normalzustand aussetzt, Ausgangsbeschränkungen bestehen, öffentliche Einrichtungen und Orte der Versammlung schließen, stellen wir fest, was für viele Alleinerziehende vorher schon Realität ist: Die Kleinfamilie hat ausgedient.

Das Konstrukt, dass ein Mensch für sich allein sorgen, dass ein oder zwei Erwachsene allein für Kinder verantwortlich sein sollen, dass wir in immer kleineren Verbünden leben sollen, funktioniert schlicht und ergreifend nicht.

Wenn wir plötzlich abgeschnitten werden von Betreuungsnetzwerken und unseren engsten Freunden, spüren wir: Selfcare hilft uns da nicht. Was wir brauchen, was wir immer brauchten, ist weniger Kleinfamilie, sondern mehr Community Care.

Lieber Dorf als Kleinfamilie

Wir stehen hier vor einem modernen, neoliberalen, gesellschaftlichen Phänomen: Die Gemeinschaft dividiert sich auseinander in Gruppen, die sich ähnlich sind. Die von Film und Fernsehen für den Herzschmerz und den Kitsch gezeichneten, altersdiversen Nachbarschaften, in denen Oma Helga von nebenan ein Auge auf die raufenden Buben vor der Tür hat, damit Mama die Füße hochlegt, während Papa Opa Willi mit dem Auto hilft – was würde ich dafür geben. Verlässt du als Single tagelang nicht deine Wohnung, weil deine Depressionen dich gerade voll niedergestreckt haben, merkt das außer deinem Arbeitgeber niemand mehr.

Die Teenietochter vom Nachbarn, die sich für eine Pizza und vielleicht einen Zehner abends auf die Couch vor den Fernseher schmeißt, während Eltern wieder zum Paar werden und gemeinsam einen drauf machen? In meinem Bekanntenkreis quasi nicht existent.

Was ich sehe: Eltern am Limit, die vorhandene Großeltern überstrapazieren und gelernte Erzieher*innen nach Feierabend für noch mehr Arbeit desselben Jobs bezahlen, um selbst nicht durchzudrehen.

Care-Arbeit wird für geringe Entlohnung an andere Menschen ausgelagert, die ihrerseits mit der Vereinbarkeit kämpfen und in ein System der Ausbeutung geraten.

Was ich außerdem sehe: Alleinstehende, die sich ab und an ein liebes Wort oder eine nette Geste wünschen, wenn sie am Sonntagmorgen außer dem Kater vom Wochenende keine Gesellschaft haben. Die in einer Pandemie-Situation völlig allein in ihrem Homeoffice vor Panik fast ersticken, weil da niemand ist, der sie einfach mal in den Arm nimmt.

Im Ernst: Das kann es doch nicht sein. Was wir brauchen sind Beziehungsstrukturen unabhängig vom Verwandtschaftsgrad. „Es braucht ein Dorf, um ein Kind groß zu ziehen“, heißt es so schön. Wir brauchen dieses Dorf. Aber nicht nur für die Kinder. Sondern für uns alle.

Lasst uns Care Arbeit auf ALLE verteilen

Wir brauchen Solidargemeinschaften, in denen wir in größeren, tragfähigen Verbünden leben. In denen Verantwortung füreinander nicht an heteronormativen Verwandtschafts- und Beziehungsverhältnissen gebunden ist, sondern an das Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Was fehlt sind außerfamiliäre Strukturen. Menschen, die sagen: „Hier, Conni gucken kann er auch bei mir, mach du mal in Ruhe deine Abgabe fertig“. Leute, die kommen, Suppe bringen und die Kinder fragen: „Wer spielt mit mir Obstgarten?“, wenn Mama und Papa in den Seilen hängen. Vertrauenspersonen, die versichern: „Ich hab‘ da schon ein Auge drauf, macht ihr euch mal einen schönen Abend“.

Wir brauchen interessierte Nachbar:innen und Freund:innen, die für Alleinstehende den Einkauf erledigen, wenn der Office-Job mal wieder die Hölle ist, und nach dem Rechten sehen, wenn die Grippe mal wieder voll zugeschlagen hat.

Ich will Strukturen, die einander tragen und entlasten, wenn eine gerade mal nicht so kann. Denn nicht nur Eltern sind ja im Krankheitsfall total allein – auch Singles und Kinderlose kommen an ihre Grenzen, wenn das Fieber jeden Kontakt zur Außenwelt abschneidet.

Was wir brauchen ist weniger Effizienz und mehr füreinander da sein. Zum Equal Care Day jüngst wurde so viel über die gleichwertige Verteilung von Care Arbeit in Paarbeziehungen gesprochen. Alles richtig. Aber ich gehe einen Schritt weiter und sage: Ich will eine gleichwertige Verteilung von Care Arbeit unter allen Menschen. Ich will Netzwerke, Banden, Verbünde, in denen sich Menschen füreinander verantwortlich fühlen, unabhängig davon, ob sie miteinander verwandt sind, in einer romantischen Beziehung zueinander stehen oder vielleicht bloß Tür an Tür wohnen.

Ich möchte, dass sich die Lasten gleichwertig verteilen lassen. Eltern sollen nicht nur von anderen Eltern Entlastung erwarten können. Es darf nicht nur Alleinerziehende brauchen, die sich für andere Alleinerziehende stark machen. Singles und Kinderlose sollen sonntagmittags nicht nur die eigene Familie anrufen können, wenn sie gerade Hilfe oder einfach Nähe suchen.

Lasst uns Solidarität wieder leben

Die Kleinfamilie ist der Fluch der modernen Gesellschaft, denn sie hat uns isoliert und unempfänglich gemacht für die Wünsche und Bedürfnisse von Menschen außerhalb unserer eigenen Lebenssituation. In einer Welt, in der ich selbst nicht mal mehr weiß, welche Kinder eigentlich zu welchem Haus in unserer Straße gehören, wundert es mich nicht, dass Menschen vor den Grenzen Europas erfrieren.

Lasst uns Solidarität wieder leben. Lasst uns die Grenzen öffnen – geographische genauso wie die in unseren Köpfen und Herzen. Für mehr Miteinander und weniger Einzelkämpfer:innentum.

Lasst uns aus der aktuellen Corona-Krise nicht zum Status Quo übergehen, sondern die Erkenntnis mitnehmen, dass wir einander brauchen. Lasst uns lernen, dass die Kleinfamilie Mist und Abhängigkeit von Gemeinschaft nicht nur real, sondern auch voll okay ist.

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Celsy ist Autorin, Möglichmacherin und Gründerin von Eine fixe Idee. In Büchern, Texten, Podcasts, Mentorings und Workshops hilft sie Menschen dabei, selbstwirksam in eine sozialpolitisch gerechte Zukunft zu schauen. Immer dabei: Ein Kaffee mit ganz viel Milchschaum.

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