Was kostet die Welt, äh, die Einschulung?!
Wie unfair und einkommensabhängig das deutsche Schulsystem ist, zeigt sich direkt mit der Einschulung: Um die 500 Euro werden Eltern mit Beginn der ersten Klasse los, wenn Schulranzen, Sportzeug sowie das Schulmaterial eingekauft werden müssen. Gleichzeitig bekommen bedürftige Familien gerade einmal 174 Euro Unterstützung für diese Ausgaben. Arme Familien können beim Schuleintritt nur verlieren und es wirkt, als ob es den Staat schlicht nicht interessiert.
Materialschlacht Einschulung
In den Jahren 2023 und 2024 kommen unsere Kinder beide direkt nacheinander zur Schule. Als ob diese Situation nicht schon emotional herausfordernd genug wäre, schluckt auch unser Portemonnaie angesichts dieser Ereignisse. Insgesamt haben wir 455 Euro für den Schulranzen und die Lernmaterialien ausgegeben. Da sind die Turnschuhe mit extra hellen Sohlen, die verlangt werden, oder Trinkflaschen und Lunchboxen nicht eingerechnet.
Mit 275 Euro war der Ranzen schon teuer genug. Richtig geschluckt habe ich allerdings, als die Schule die Liste für die Lernmaterialien geschickt hat: Der Wert der Waren auf der Liste beläuft sich auf 192 Euro. 176 Euro, wenn man das (einzige!) Schulbuch, das zur Ausleihe zur Verfügung steht, nicht selbst kauft.
Zum Hintergrund: Das Land Niedersachsen hat die Lernmittelfreiheit schon zum Schuljahr 2004/2005 abgeschafft. Seit fast 20 Jahren müssen Eltern in Niedersachsen die Schulbücher ihrer Kinder also selbst kaufen. Eine Ausleihe ist auch nur gegen Gebühr möglich. Diese beträgt zwischen 33 bis 40 Prozent des Ladenpreises, wie die GEW festhält.
Wie der SPIEGEL 2022 berichtet, gilt die klassische Lernmittelfreiheit nur noch in fünf Bundesländern:
- Baden-Württemberg,
- Hessen,
- Thüringen,
- Sachsen und
- Mecklenburg-Vorpommern.
In sieben Bundesländern gilt die sog. eingeschränkte Lernmittelfreiheit, das heißt, die Eltern zahlen die Materialien anteilig. In Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, dem Saarland und in Rheinland-Pfalz müssen Eltern die Kosten komplett zahlen und können vereinzelte Bücher gegen Gebühr ausleihen.
Klassismus: Schlechtere Noten dank günstiger Materialien
Das Argument, dass die Bücher in der Ausleihe doch dann immer noch viel günstiger wären, hilft Eltern dabei nur bedingt weiter. Denn die Abschaffung der Lernmittelfreiheit hat einen Trend begünstigt: Schulbuchverlage und Lehrkräfte setzen immer mehr auf ausfüllbare Arbeitshefte statt Bücher und Schreibhefte. Diese Arbeitshefte können nicht ausgeliehen werden, weil die Kinder direkt hineinschreiben. Wenn die Kinder direkt in die Bücher hineinschreiben, gestaltet sich das Weiterreichen der Bücher von einem Kind zum anderen schwierig.
So kommt die Situation zustande, dass wir in diesem Jahr aus 9 Büchern und Arbeitsheften genau ein Buch ausleihen können. Alles andere müssen wir kaufen.
Ein Grund, warum die Materialien so teuer sind: Seitens der Lehrkräfte werden Stifte und Tuschkästen oft als teure Markenprodukte, angefordert. Bemängelt man diesen Umstand, argumentieren Kritiker*innen, arme Menschen müssten die Markenprodukte ja nicht kaufen. Man solle doch einfach die entsprechenden No-Name-Produkte kaufen.
Armen Familien bleibt auch nichts anderes übrig. Allerdings hat das für die Kinder direkte Nachteile. Denn die billigen Produkte sind weniger stark pigmentiert, die Farben sind weniger deckend und dumpfer. Genau diese Faktoren fließen bei der Benotung – bewusst und unbewusst – ein. Ein Bild mit dumpfen Farben wirkt neben den strahlenden Farben der Markenprodukte schlicht weniger hochwertig. Teilweise können günstige Markenprodukte auch gar nicht das gewünschte Ergebnis erzielen.
Eine Followerin erklärte mir z.B., dass der Unterschied vor allem dann auffällt, wenn im Kunstunterricht der Farbkreis durchgenommen wird. De No-Name-Tuschkästen sind nicht genormt. Es ist für Kinder mit billigem Material kaum möglich, das gewünschte Ergebnis zu erzielen, weil die Farben stark abweichen. Einfach gesagt: Der Farbkreis sieht nicht so aus, wie vom Unterrichtsziel verlangt. Berücksichtigen Lehrkräfte die unterschiedlichen Voraussetzungen der Farbkästen nicht, können Kinder mit billigem Material nur schlechter abschneiden. Im Klartext: Kinder finanziell weniger begünstigter Familien bekommen schlechtere Noten, weil ihren Eltern das Geld fehlt.
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Bildung und Teilhabe – ein Paket oder eine Farce?
Es zeigt sich also schon direkt zu Beginn des Schuljahres, wie sehr der Bildungserfolg von den finanziellen Mitteln des Elternhauses abhängt. “Aber es gibt doch Unterstützung vom Staat!”, will da so manch eine*r rufen. Schauen wir uns diese Unterstützung mal genauer an.
Für Kinder und Jugendliche aus prekär lebenden Familien hat der Staat das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket installiert, oft BuT abgekürzt. Diese Leistungen sollen beispielsweise auch den Mehrbedarf für Ranzen, Sportsachen und Schulmaterialien abmildern, den Familien naturgemäß haben. An sich eine gute Sache, sollte man meinen. Der Teufel steckt im Detail:
Im Jahr 2023 beträgt die im BuT gezahlte Pauschale für schulischen Mehrbedarf 174 Euro. Dieser Betrag wird auf 116 Euro im ersten und 58 Euro im zweiten Schulhalbjahr aufgeteilt. Laut dem Serviceportal des Landes Niedersachsen sollen mit dieser Pauschale genau diese Dinge wie “Schulranzen, Sportzeug, Schreib-, Rechen- und Zeichenmaterial” bezahlt werden.
Die Frage, die einen dabei nahezu anspringt: Wie soll diese Pauschale, die vor allem Menschen im Bezug von Transferleistungen bekommen, überhaupt ausreichen, wenn allein die Materialliste der Schule diesen Betrag bei weitem übersteigt? An unserem Beispiel gerechnet: Der ursprüngliche Materialwert der Liste waren 192 Euro. Mit Ausleihe statt Kauf der Lesefibel kämen wir auf 176 Euro.
Dazu kommt: Alle Materialien müssen schon zu Beginn des Schuljahres angeschafft werden. Die volle Summe aus dem Bildungs- und Teilhabepaket steht aber erst im Januar, zum zweiten Halbjahr, bereit. Und für den Schulranzen und die Sportsachen reicht der Betrag immer noch nicht.
Die Liste mit den anzuschaffenden Materialien kam hier im Übrigen knapp 8 Wochen vor Schulbeginn. Für eine Familie, die auf die Pauschale aus dem BuT angewiesen ist, hätte dieser Vorlauf lange nicht gereicht, um den Mehrbetrag anzusparen.
Bildungs- und Teilhabepaket kurz erklärt:
Unter dem Bildungs- und Teilhabepaket, auch BuT, versteht man die “Leistungen für Bildung und Teilhabe bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen”. Anspruch auf diese Leistungen haben:
- Familien im Bezug von Bürgergeld
- Familien, die Kinderzuschlag beziehen
- Familien, die Wohngeld erhalten
- Familien, die Sozialhilfe nach dem SGB XII bekommen
- Beziehende von Asybewerberleistungen
- Familien mit geringem Einkommen (können ihren Anspruch prüfen lassen)
Wofür können Anspruchsberechtigte die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket verwenden?
- Kosten für Ausflüge und mehrtägige Klassenfahrten
- persönlicher Schulbedarf (siehe die oben angesprochenen 174 Euro)
- Schulbeförderung, wenn Kosten nicht anderweitig übernommen werden
- Lernförderung
- Mehraufwendungen für das Mittagessen
- Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben (Vereine, Musikunterricht, Ferienfreizeiten)
Tipp: Für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben stehen 15 Euro pro Monat zur Verfügung. Dieser Betrag kann für einmalige, größere Anlässe angespart werden, beispielsweise für die Finanzierung eines Schwimmkurses.
Mehr Informationen zum Bildungs- und Teilhabepaket gibt es beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
Entlastung im Mental Load oder Manifest sozialer Ungleichheit?
All die finanziellen Faktoren beiseite, stöhnen viele Eltern allein schon über den Mental Load, den jedes neue Schuljahr mit sich bringt. Gerade die Beschaffung der Lernmaterialien ist ein aufwändiges Unterfangen.
Mittlerweile bieten viele Schreibwarengeschäfte deshalb einen für Eltern praktischen Service an, wenn es um eben diese Besorgung der Lernmittel geht: Eltern können die Liste, die von der Schule geschickt wird, beim Schreibwarenhandel abgeben. Im Laufe der Ferien können sie eine fertig gepackte Tüte abholen, in der alles drin ist, was es für das neue Schuljahr braucht. An Aufwand für die Eltern fällt nur Bestellung, Abholung, Bezahlung und Beschriftung an.
Das mühselige Zusammensuchen, Preise vergleichen, Bestellen und Besorgen der einzelnen Materialien müssen also nur noch die Eltern erledigen, die sich nicht leisten können, die hohen Preise der Markenprodukte im Einzelhandel zu zahlen. Alle anderen erkaufen sich die Möglichkeit, einen großen Punkt von der To-Do-Liste zu streichen.
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Denn leider ist auch Fakt: Die Schreibwarengeschäfte refinanzieren ihren Service oft über höhere Produktpreise. Statt 5,99 Euro im Angebot bei Rewe zahlen Eltern im Schreibwarenhandel plötzlich 13,99 Euro für ein und denselben Tuschkasten. Spätestens hier wird vielen armutsbetroffenen Eltern klar: Elternschaft kann so viel leichter sein, wenn man nur die passenden finanziellen Mittel hat.
Doch nicht nur die Eltern bekommen anhand dieses Service genau aufgezeigt, wo sie finanziell stehen: Einige Schulen lassen die Tüten direkt in die Schule liefern. In anderen Schulen bringen viele Kinder die Tüten am ersten Unterrichtstag mit, um die Materialien im Klassenzimmer zu verräumen. In beiden Fällen fällt sofort auf, welches Kind Eltern hat, die das leisten können – und welches Kind eben nicht. Ein Freund von mir, dessen Eltern sich diese Tüten eben nicht leisten konnte, sagte bei der Erinnerung daran sehr treffend: “Das fühlte sich ganz schön scheiße an”.
Das muss Demokratie besser können
Die Tragik hinter der Benachteiligung armer Familien in Sachen Bildungskosten: Die Kosten für Eltern werden noch weiter steigen. Schon für dieses Jahr berichtet die Süddeutsche Zeitung, dass die Kosten für bspw. Collegeblöcke um fast 14% gestiegen sind. Auch in Sachen Bildung geht die Schere zwischen Arm und Reich also unaufhörlich weiter auf.
Dabei muss ein demokratischer Staat, der kein Kind zurücklassen will, das besser können. Schaut man sich die aktuellen Verhältnisse an, ist schwer zu übersehen, dass alle – Bund, Länder, Kommunen als Schulträger – bei der Bildung der künftigen Generationen als erstes sparen. Die Eltern richten es ja.
Die Bundesländer stellen immer weniger Gelder zur Verfügung, woraufhin auch die Schulträger ihre Verfügungsbudgets für die Schulen immer weiter zurückfahren. Dabei ließe sich über diese Budgets so viel bewirken, das armen Familien direkt zugute käme: Wenn Materialien, wie Wachsmalstifte oder Malblöcke, zentral von den Schulen geordert werden würden, könnte man bei Großhändlern Rabatte aushandeln. Wachsmalstifte könnten im (halben) Klassensatz zum Teilen angeschafft werden. Es gibt so viele Stellschrauben, an denen eine kluge Verteilung von Geldern und eine zentralisierte Koordination Familien direkt entlasten könnte.
Doch stattdessen sammeln Lehrkräfte zusätzlich zu den teuren Materialien auch noch Kopiergeld und Geld für die Klassenkasse ein, aus denen dann beispielsweise Ausflüge und Bastelvorlagen finanziert werden. Beides Dinge, die eigentlich über das BuT förderfähig wären. Doch das System lässt gar nicht zu, dass Eltern finanziell entlastet werden.
Nach dem Gespräch mit der Klassenlehrerin meines Kindes, muss ich sogar feststellen: Nicht einmal für die Gestaltung der Klassenzimmer kommt genug Budget bei den Schulen bzw. bei den entsprechenden Lehrkräften an. Nicht nur sie, sondern auch viele Lehrer*innen auf Instagram berichten: Das meiste, was sie für eine angenehme Lernatmosphäre anschaffen, zahlen sie aus eigener Tasche. Wofür Eltern und Lehrkräfte nicht zusätzliches Geld locker machen, ist einfach kein Budget da.
Für eine Industrienation wie unsere ist das ein Armutszeugnis.
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Foto von Pixabay: https://www.pexels.com/de-de/foto/aquarell-arbeit-ausbildung-ausrustung-207665/
Celsy ist Autorin, Möglichmacherin und Gründerin von Eine fixe Idee. In Büchern, Texten, Podcasts, Mentorings und Workshops hilft sie Menschen dabei, selbstwirksam in eine sozialpolitisch gerechte Zukunft zu schauen. Immer dabei: Ein Kaffee mit ganz viel Milchschaum.
krass, 192€ für Lernmaterialien.. Wir haben für die Materialien vielleicht 20€ ausgegeben, Bücher werden komplett von der Schule gestellt, alles andere ist in er Tat ein Armutszeugniss (ich wohne in Sachsen).
Anmerken will ich noch, dass ich ~250€ für einen Schulranzen auch extrem teuer finde! Wir haben daher den Einkauf genau wie beim 1. Kind schon antizyklisch gestaltet; im Winter kosten dieselben Ränzen 120€ im Internet..
Schreibwaren kaufe ich bei Aktionen vom Rossmann, Action, Tedi, usw.
Man kann dort sogar Markenware bekommen. Doch alles summiert sich sehr.
Je nach Schule und auch Lehrkraft werden sogar bestimmte Marken vorgeschlagen.
Das kann auch ins Geld gehen
und klar, Arbeitshefte und Bücher sowieso
Was ich krass finde ist, dass es zur Einschulung kein ExtraPosten für den Ranzen gibt ( und ab weiterführender Schule , 5. 7. Klasse einen Rucksack)
Klar, es gibt Modelle ab 70 Euro neu und klar, es ist dann kein Ergobag, man merkt die Qualität- doch von dem knappen Geld ist alles sehr teuer
Natürlich kann man gebraucht kaufen, manche werden über Kleinanzeigen verschenkt – doch da muss man schnell sein, es ist wahrscheinlich nicht der Wunschranzen ( für die meisten ist es ja Tradition sich den selbst auszusuchen) und nicht mehr der neuste – und sofort bist du das arme Kind.