Frei schreiben

Es geht immer so viel um das, was andere nicht sehen sollen.

Als Autorin, Bloggerin, Selbstständige sollen die Leute nicht sehen, wie du struggelst. Du sollst nicht darüber sprechen, wie scheiße anstrengend es ist, zu Beginn der Selbstständigkeit zwei Kinder zu bekommen. Auch nicht darüber, wie nervenaufreibend es ist, die Selbstständigkeit von Grund auf aufzubauen und auch vier Jahre später am Ende des Monats nur grad so genug zu haben.

Du sollst nicht zeigen, dass du nicht belastbar bist. Verschweig, dass drei Stunden am Tag konzentriertes Schreiben und Recherchieren das Maximum sind, dass du häufig krank bist. Niemand darf sehen, dass Strukturen etwas sind, das dir mit zwei Kindern und diversen Vorerkrankungen ab und an mal abhanden kommt.

Niemand soll das sehen, sonst engagiert dich niemand mehr.

#fraumachtpolitik – oder nicht.

Als Aktivistin, Kommunalpolitikerin (in spe) und Kreisverbandsvorsitzende der Jugendorganisation soll niemand wissen, dass dir Sexpositivität wichtig ist und du die Swingerbibel Zuhause liegen hast. Schweig darüber, dass du und dein Mann über eine offene Ehe nachdenkt, und erzähl bloß nicht, dass du gerade kinky stuff für dich entdeckst.

Du sollst nicht zeigen, welches Sextoy du gerade am meisten liebst, welche Dessous dir grad ein gutes Gefühl vermitteln und wie kacke deine Menstruation eigentlich ist. Darfst nicht erzählen, was für fantastischen oder miesen Sex du kürzlich hattest oder dass du manchmal als Einschlafhilfe masturbierst. Sollst für dich behalten, dass du trotz Ehe und Kindern herausgefunden hast, dass du eigentlich auch auf Frauen stehst.

Zeig dich nicht mit sexy Dekolleté und lass deine Metal-Chic-Attitüde gern Zuhause. Denn sonst verwenden die Leute es gegen dich, finden dich nicht seriös genug, wählen dich nicht, nehmen dich nicht ernst. Dann bist du nämlich raus.

Rüttel an dem, das dich verzweifeln lässt

Aber hier ist meine Wahrheit: Ich habe immer über das geschrieben, was ich kannte, weil ich wusste, dass ich es gebraucht hätte. Wann immer dich eine Sache beschäftigt, kannst du dir sicher sein, dass es da draußen mindestens einer weiteren Person genauso geht.

Von Kindesbeinen an habe ich immer für diese zweite Person geschrieben. Habe Texte geschrieben, die ich gebraucht hätte, als ich in dieser oder jener Situation gesteckt habe. Mein Antrieb war es IMMER, diese Welt zu verändern. Gesehen zu werden vielleicht auch, sicherlich.

Aber in erster Linie ging es mir schon immer darum, daran zu rütteln, was mich selbst scheitern oder verzweifeln ließ. Ich habe immer für die Kinder, Frauen, Menschen geschrieben, denen es an Hilfe, an Rat oder an Bezug zu Personen fehlte, die Ähnliches erleben. Wann immer ich mich in Texten, auf Social Media und im Persönlichen sprichwörtlich nackig gemacht habe, wollte ich eine Basis schaffen, auf der auch andere sich gesehen und gehört fühlen.
Ein Zeichen setzen, dass niemand mit seinem Erleben allein ist.

Wenn sich niemand zeigt, wen sehen wir dann?

Hier steh ich nun und weiß, dass es verdammt gefährlich ist, sich so nahbar zu machen. Ich sehe, dass gerade Frauen mit einer öffentlichen Präsenz immer wieder lernen, Persönliches zurück zu halten. Sie halten Dinge hinterm Berg, wollen Privates und Öffentliches strikt trennen, weil jeder Einblick, den wir liefern, uns angreifbar macht für andere. Vor allem Frauen erleben immer wieder, dass Verletzlichkeit, Überforderung, Sexappeal, Freizügigkeit und Ehrlichkeit zu ihrem Nachteil ausgelegt werden. Doppelstandards unserer Gesellschaft führen dazu, dass Männer mit Affären sogar Verständnis ernten, während das dekolletierte Kleid unserer Bundeskanzlerin unvergessen bleibt.

Die Frage ist doch: Wenn niemand sich mehr verletzlich zeigt, wenn niemand offen über die eigene Sexualität spricht, wenn keine*r den ungeschönten Einblick in den eigenen Wahnsinn gewährt, wie sollen wir dann voneinander wissen? Wie können wir erwarten, dass Frauen und Menschen im Allgemeinen ein selbstbestimmtes Leben führen, wenn wir aus Angst vor der gesellschaftlichen Ächtung all das für uns behalten, das die Masse vielleicht problematisch findet? Wie soll es denn Veränderung geben, wenn sich niemand traut, darüber zu sprechen?

Ja, es ist die hässliche Wahrheit, dass Menschen deine Schwäche, deine intimsten Geheimnisse und persönlichen Einblicke gegen dich verwenden. Es ist die hässliche Wahrheit, dass wir verurteilt werden für Dinge, die andere nicht nachvollziehen können und dass alternative Ideen nicht nur Skepsis, sondern auch tiefgehende Ablehnung schüren. Aber wollen wir uns wirklich immer von Angst vor all dem Schlechten treiben lassen? Wollen wir an Tabus festhalten, die Jahrhunderte lang dazu gebraucht wurden, Personengruppen klein zu halten, uns gefügig, kontrollierbar und vorhersehbar zu machen? Können wir wirklich nach Veränderung schreien und uns gleichzeitig vorsichtig bedeckt halten?

Aus einer Stimme werden viele

Ich bin es leid, immer so zu sein, wie die Gesellschaft mich haben will. Es tut mir weh, über so vieles nicht öffentlich schreiben zu können, weil ich mich davor fürchten muss, dass es mir irgendwann zum Verhängnis wird. Denn das , was ich immer getan habe, was ich immer geliebt habe und immer lieben werde, ist: die Dinge beim Namen zu nennen. Texte zu schreiben, die anderen Menschen sagen: Du bist nicht allein und wir schaffen das gemeinsam.

Ich möchte, dass andere die Erfahrung machen, dass ihre Gefühle valide und wertvoll und berechtigt sind. Sie sollen wissen, dass ihr Erleben keine zufällige Laune der Natur ist, sondern etwas, dass auch anderen Menschen widerfährt. Ich will ihnen versichern, dass ihr Schmerz, ihre Freude, ihre Lust oder ihr Mangel nichts Singuläres ist, das niemand begreift. Sie sollen erfahren, dass es Leute dort draußen gibt, die sie verstehen können. Ich möchte, dass Menschen Mut schöpfen, Vertrauen finden, über sich hinauswachsen, Gelerntes in Frage stellen und zu neuen Ufern aufbrechen, weil sie sehen, dass es so viel mehr gibt als sie zu ahnen glaubten.

Meine Worte sollen Menschen motivieren und ihnen den Glauben schenken, dass Veränderung möglich ist. Ich will den Menschen zeigen, dass Teilhabe, Leidenschaft und Engagement es wert sind, weil sie niemals allein sein werden. Ich will zeigen, dass es sich immer lohnt, los zu gehen, weil aus einer einzigen Stimme viele werden können.

Wirf den ersten Stein

Wenn es das also ist, wofür man mich verurteilen will: der Wille und der Mut, sich offen, nahbar und verletzlich zu zeigen, schonungslos und tabulos, um anderen Menschen eine Stimme und eine Perspektive zu geben; wenn ihr mich wirklich dafür richten und ablehnen wollt, dass ich für das einstehe, woran ich glaube – dann sei es so.

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Celsy ist Autorin, Möglichmacherin und Gründerin von Eine fixe Idee. In Büchern, Texten, Podcasts, Mentorings und Workshops hilft sie Menschen dabei, selbstwirksam in eine sozialpolitisch gerechte Zukunft zu schauen. Immer dabei: Ein Kaffee mit ganz viel Milchschaum.

2 thoughts on “Frei schreiben

  1. Ja ja ja und go go go!!! Ich finde, wir brauchen Menschen wie dich so sehr in unserer Gesellschaft – die sich engagieren, um auch weniger priviligierten Menschen einen Platz in der Gesellschaft zu verschaffen, anstatt um die Privilegien der eh schon übersättigten zu bewahren. Danke! Liebe Grüße, Jasmin

    1. Vielen, vielen Dank für diese lieben Worte und die Ermutigung, liebe Jasmin. Und deinen Beitrag – ich weiß das sehr zu schätzen! <3
      Liebe Grüße, Celsy

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